Irritation zwischen Paris und Washington Amerikanische Demarchen gegen die Unilateralismus-Kritik
Neue Zürcher Zeitung
19. Februar 2002Nach Frankreichs Kritik am amerikanischen Unilateralismus und an Bushs Kampfansage an eine "Achse des Bösen" hat Washington in diplomatischen Demarchen sein lebhaftes Missfallen gegenüber der französischen Regierung bekundet. Paris lehnt weiterhin ein militärisches Vorgehen gegen den Irak ab.
Die jüngste französische Kritik am amerikanischen Unilateralismus und an einem angeblich "simplistischen" Weltbild Washingtons bei der Bekämpfung der "Achse des Bösen" sowie des islamistischen Terrors ist nicht ohne Folgen geblieben. Von amerikanischer Seite sind sowohl beim französischen Botschafter in Washington als auch am Quai d'Orsay Demarchen unternommen worden, in denen kein Zweifel am lebhaften Missfallen Amerikas vor allem über die Kritik Aussenminister Védrines gelassen wurde. Staatssekretär Powell deutete die beträchtliche Irritation über Frankreich an, als er sogar öffentlich die Ausführungen des Leiters der französischen Diplomatie mit der Randbemerkung kommentierte, dieser schwafle Unsinn, wenn er behaupte, Amerika konsultiere nicht seine Alliierten.
IN VORDERSTER LINIE
Der französische Botschafter in Washington stellte nach einer Unterredung mit der Abteilungsleiterin für Europa im State Department von Ende vergangener Woche in Abrede, dass er von den Amerikanern einbestellt worden sei, um deren Unmut über Védrines Breitseite entgegenzunehmen. Es habe sich vielmehr um eine Routinebegegnung vor einem baldigen Besuch der hochrangigen amerikanischen Diplomatin in Paris gehandelt. Im Verlauf der Unterredung seien neben der Lage in Afghanistan und im Nahen Osten auch die transatlantischen Meinungsverschiedenheiten erörtert worden. Von amerikanischer Seite wurde allerdings zur besonderen Charakterisierung der Demarche, bei der das Missfallen über die unnützen Kommentare Védrines nicht verhehlt worden sei, offiziös auch eine Parallele zu einer Vorsprache von Washingtons Geschäftsträger in Paris beim Büroleiter Aussenminister Védrines hergestellt. Der Geschäftsträger soll zusätzliche Auskünfte über die Motive von Védrines Ausführungen verlangt haben.Auch wenn formell bei diesen amerikanischen Vorstössen nach französischer Interpretation das unter befreundeten und verbündeten Staaten ungewöhnliche schwere Geschütz einer Einbestellung des Botschafters nicht aufgefahren wurde, ist die Verstimmung zwischen Washington und Paris mit Händen greifbar. Dass inzwischen der EU-Aussenkommissar Patten und der deutsche Aussenminister Fischer mit ähnlichen Attacken jene Védrines gegen den Stachel westlicher Solidarität im Kampf gegen die "Achse des Bösen" gelöckt haben, ändert nichts an der Tatsache, dass wie so häufig die Franzosen mit den Anwürfen vorgeprescht waren und deshalb nun auch besondere Aufmerksamkeit bei der amerikanischen Retourkutsche erfahren. Wenn Präsident Bush jetzt den "europäischen Eliten" zürnt, deren Knie schlotterten bei dem Gedanken, sich gegen jene Staaten zu wehren, die Terroristen mit Massenvernichtungswaffen ausrüsten könnten, so braucht man nicht lange darüber zu rätseln, ob Frankreich unter diese Kategorie falle.
POLITISCHE EXTRATOUR STATT MILITÄRPOTENZIAL
Als vor geraumer Zeit Staatssekretär Powell in Paris erklärte, dass Präsident Bush noch keinerlei Vorschläge zu einer Militäraktion gegen den Irak vorgelegt worden seien, hatte Védrine dies sofort mit grosser Erleichterung als eine wichtige Präzisierung begrüsst. Inzwischen präsentiert sich die Lage indes anders. Dass sich mittlerweile selbst Powell dem Kreis der Befürworter eines harten Drucks gegenüber Saddam Hussein anschloss, zwang Paris zur Einsicht in die höchst unbequeme Perspektive eines amerikanisch geführten Feldzuges gegen Bagdad in näherer, wenn auch nicht allernächster Zukunft. Nicht zuletzt dagegen richteten sich im Grunde die meisten der dann auch von Premierminister Jospin übernommenen Klagen gegen Washington. Wahlkampfpolitisch ist zudem einiges zu holen mit einem wiederbelebten Antiamerikanismus unter der Linken, wo Grüne und Kommunisten bereits den Afghanistan-Krieg abgelehnt hatten und der Präsidentschaftskandidat Chevènement sich weiterhin als Advokat des Iraks aufspielt.Die Marginalität von Frankreichs Rolle bei den bisherigen Militäroperationen in Afghanistan wird demgegenüber selbst von der parlamentarischen Rechten nur noch sporadisch bedauert. Verteidigungsminister Richard gab inzwischen bekannt, dass Frankreich sein bescheidenes Kontingent von etwas über 500 Marineinfanteristen als Anteil an der multinationalen Isaf-Überwachungstruppe in Kabul für weitere drei Monate nach Ablauf des ursprünglich nur vorgesehenen Vierteljahres zur Verfügung stellen werde. Die in Kirgistan und Afghanistan stationierten französischen Soldaten sind fast völlig von den französischen Fernsehbildschirmen und aus der Presseberichterstattung verschwunden. Nur der im Golf von Oman kreuzende Flugzeugträger "Charles- de-Gaulle" erfährt noch gelegentlich Erwähnung. Einzig Amerika war zur raschen und ausreichenden Militärmachtentfaltung in der Region imstande gewesen. Die Unausweichlichkeit dieses zunehmend allein schon rüstungstechnologisch bedingten militärischen Unilateralismus, aus dem sich automatisch ein gesteigerter Führungsanspruch ergibt, bedeutet für Frankreich eine Demütigung und motiviert die kompensatorische Extratour zwecks Bewahrung zumindest des eigenen politischen "nuisance value".
(c) 2002 Neue Zürcher Zeitung AG