Amerikanisch-russische "Spielerei" in Georgien Westliche Geheimdienste: Keine Al-Qaida-Kämpfer im Pankisi-Tal
Moskau enttäuscht über WashingtonFrankfurter Allgemeine Zeitung
19. April 2002
Von unserem Korrespondenten Markus WehnerMOSKAU, 18. April. Die Behauptung Washingtons und Moskaus, in Georgien hielten sich an der Grenze zu Tschetschenien Kämpfer von Al Qaida auf, trifft nach Einschätzung westlicher Geheimdienste nicht zu. "Das ist absoluter Quatsch", lautet eine gegenüber dieser Zeitung geäußerte Bewertung. Offenbar sei es den Vereinigten Staaten darum gegangen, den Russen in der Tschetschenien-Frage entgegenzukommen, nachdem sich in Moskau Enttäuschung über die Zusammenarbeit mit den Amerikanern in Afghanistan breitgemacht habe. Deshalb habe sich Washington auf die "Spielerei" mit Moskau eingelassen und die These verbreitet, in das Pankisi-Tal in Georgien seien Kämpfer von Al Qaida geflohen.
Enttäuscht waren die Russen demnach vor allem darüber, daß die Amerikaner in Afghanistan dem Drängen des pakistanischen Staatschefs Musharraf nachgegeben hatten und nach der Schlacht um die nordafghanische Stadt Kunduz zweihundert bis dreihundert vom pakistanischen Geheimdienst ISI entsandte Kämpfer aus Afghanistan in ihre Heimat ausgeflogen hatten. Das hat nach Auffassung der westlichen Geheimdienste dazu beigetragen, daß die Anti-Terror-Koalition auf der Arbeitsebene "tot" sei. Während die politischen Führungen weiter Einigkeit demonstrierten, herrsche bei der operativen Zusammenarbeit der Geheimdienste Mißtrauen. Auch die Behauptung der Amerikaner, Iran habe Kämpfern von Al Qaida Fluchtwege bereitgestellt, sei in Moskau als Versuch Washingtons angesehen worden, Teheran, das jahrelang die Taliban-Gegner der "Nordallianz" unterstützt hatte, nach Gutdünken wieder in die Reihe der Schurkenstaaten einzureihen. Die Russen hätten sich danach benutzt gefühlt, so die Einschätzung.
Die These, Al-Qaida-Kämpfer hielten sich in der Pankisi-Schlucht am tschetschenischen Abschnitt der georgisch-russischen Grenze auf, hat Washington gemäß dieser Auffassung als eine Gelegenheit betrachtet, den hohen Erwartungen der Russen nach dem 11. September, man könne gemeinsam mit den Amerikanern das Problem Tschetschenien lösen, wenigstens verbal entgegenzukommen, zugleich aber die Militärkooperation mit Georgien auszudehnen. Vor zwei Monaten hatte der Amtsträger der amerikanischen Botschaft in der georgischen Hauptstadt Tiflis, Remler, in einem Zeitungsgespräch gesagt, einige Dutzend Kämpfer von Al Qaida hätten sich in das Pankisi-Tal geflüchtet. Rußland spielte das Thema über Tage hoch, indem es das Tal an der Grenze zu Tschetschenien gar als möglichen Aufenthaltsort von Usama Bin Ladin nannte und von einem "Mini-Afghanistan" sprach. Die Schlucht an der russisch-georgischen Grenze wird überwiegend von einer tschetschenischen Minderheit, den Kisten, bewohnt, die georgische Staatsbürger sind. Zudem halten sich tschetschenische Flüchtlinge in der Schlucht auf - nach Moskaus Angaben sieben- bis achttausend. (Fortsetzung Seite 2, siehe Seite 6.)
Unter ihnen sind auch Kämpfer des radikal-islamistischen tschetschenischen Lagers, darunter auch einzelne Araber. Deren Aufenthalt ist allerdings schon seit September vergangenen Jahres bekannt gewesen, ihre Verbindung zu Al Qaida gilt als nicht nachgewiesen. Die Reisen russischer und westlicher Journalisten in das Tal haben in den vergangenen Wochen zumindest keine Hinweise auf Al Qaida zutage gefördert. Das eigentliche Problem des Pankisi-Tals ist, daß es zu einem Hort von Kriminellen geworden ist, die Waffen- und Drogenhandel betreiben, an denen auch manche georgische Staatsdiener und Polizisten nicht schlecht verdienen.
Rußland betrachtet das Tal vor allem als wichtiges Rückzugsgebiet der tschetschenischen Kämpfer. Sie sollen dort von saudiarabischen Organisationen und von der starken tschetschenischen Diaspora in der Türkei unterstützt werden. Freilich führt der Weg von der Schlucht nach Tschetschenien nur über Trampelpfade und ist im Winter kaum passierbar. Als Rückzugsort für Al Qaida wäre das Tal insofern schlecht geeignet, da es bei einer Militäraktion leicht abzuschneiden wäre. Die Regierung in Tiflis hat die Debatte um Al-Qaida-Kämpfer im Pankisi-Tal genutzt, um auf eine Ausweitung ihrer seit langem bestehenden militärischen Zusammenarbeit mit Washington zu dringen. Zugleich hat Präsident Schewardnadse darauf bestanden, daß es im Pankisi-Tal vor allem um die polizeiliche Aufgabe gehe, die Kriminalität unter Kontrolle zu bringen. Als Moskau seine These von einem "Mini-Afghanistan" verbreitete, soll Tiflis vorgeschlagen haben, den Amerikanern die Situation in der Schlucht im Zuge einer Exkursion vor Augen zu führen. Die Blitzreise des russischen Chefs des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Patruschew, nach Tiflis am 21. Februar soll unter anderem dazu gedient haben, eine solche Entwicklung der "Pankisi-Affäre" zu verhindern.
Moskau vertritt seit langem die These, daß der Kampf der Tschetschenen gegen russische Truppen eine Spielart des internationalen islamistischen Terrorismus ist. Dafür, daß dies zum Teil stimmt, spricht, daß manche der radikal-islamistischen Kämpfer in Tschetschenien eine Ausbildung in Afghanistan durchlaufen haben. Auch haben nachweislich Tschetschenen - die Rede ist von mehreren hundert Mann - in den Reihen von Al Qaida in Afghanistan gekämpft. Zugleich verfügen die Kämpfer in Tschetschenien aber kaum über die militärische Stärke, um im größeren Umfang Kämpfer in andere Länder zu "exportieren". Bisher ist unklar, ob die Mehrzahl der Tschetschenen, die in Afghanistan in Al Qaida kämpften, tatsächlich aus Rußland stammen, wie Moskau behauptet, oder ob sie aber in der Mehrzahl etwa aus der Türkei, Jordanien, Syrien oder anderen arabischen Staaten kommen. Die Amerikaner haben den Russen auf der kubanischen Insel Guantanamo bisher nur drei Gefangene vorgeführt, die aus Rußland stammen.
Als Ergebnis der "Pankisi-Affäre" kann gelten, daß die Amerikaner ihre militärische Kooperation mit Georgien, die auch der Sicherheit der Ölpipelines gilt, um eine Anti-Terror-Komponente ausgedehnt haben. Etwa 1500 Mann von vier georgischen Armeeeinheiten und 500 Mann der georgischen Grenztruppen sollen in den nächsten Monaten von amerikanischen Militärfachleuten ausgebildet werden und leichte Waffen, Fahrzeuge und Funkgeräte im Wert von etwa 64 Millionen Dollar erhalten. Im Pankisi-Tal sind jedoch keine direkten Kampfeinsätze der Amerikaner zu erwarten.
Die Aufregung um den vermeintlichen Rückzugsort von Al-Qaida-Kämpfern in Georgien hat jedoch zumindest bewirkt, daß die Aufmerksamkeit für die labile Situation des Landes, für dessen staatlichen Zerfall gewachsen ist. Das größte von zahlreichen Problemen, vor denen Tiflis steht, ist die Lage in der separatistischen Region Abchasien. Dort ist zehn Jahre nach einem blutigen Krieg keine Lösung in Aussicht. In der vergangenen Woche hatte sich die Situation in Abchasien wieder zugespitzt, nachdem achtzig russische Fallschirmjäger in einen Teil des Kodori-Tals vorgerückt waren, in denen sie nach einer Vereinbarung aller dort vertretenen Parteien - der Abchasen, Georgier, der aus Russen bestehenden GUS-Friedenstruppe und der Vereinten Nationen - nicht vorrücken durften. Nach einem Telefongespräch zwischen Präsident Putin und dem georgischen Präsidenten Schewardnadse konnte die Krise durch den Abzug der Russen noch einmal beigelegt werden.
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2001