Pentagon stoppt Truppenaufmarsch für Krieg gegen Irak Financial Times Deutschland
11. Juni 2002
Von Hubert Wetzel, BerlinDas US-Militär hat den Aufbau einer Streitmacht für einen Krieg gegen Irak offenbar vorerst gestoppt. Bis vor wenigen Wochen gab es nach Ansicht von Experten noch viele Hinweise, dass die USA Material und Soldaten nach Kuwait verlegen.
"Derzeit beobachten wir jedoch keine großen logistischen Bewegungen, die wir sehen würden, wenn die USA für dieses Jahr einen Irak-Krieg planten", sagt Charles Heyman, Chefredakteur des Militär-Standardnachschlagewerkes "Jane’s World Armies". Trotzdem geben Fachleute keine Entwarnung: Sollte Washington Irak angreifen wollen, könnte der Aufbau der Invasionstruppen "sehr schnell" gehen, so der US-Militärexperte John Pike. "Die Planungen gehen weiter", sagt auch Ex-Admiral Stephen Baker vom Center for Defense Information in Washington.
Der Aufbau von US-Truppen in Kuwait wurde scheinbar schon Ende März abgebrochen - wenige Tage, nachdem US-Vizepräsident Richard Cheney bei seiner Nahostreise von arabischen Staaten vor einem Angriff auf Irak gewarnt worden war. In den Monaten davor sollen unbestätigten Berichten zufolge bis zu 20.000 US-Truppen nach Kuwait verlegt worden sein. Ein Militärsprecher sagte am Montag aber, derzeit seien in dem Land nur rund 8000 GIs.
Bestätigen lassen sich diese Zahlen kaum. Da die Truppen- und Materialtransporte von und nach Kuwait sehr unübersichtlich sind, müssten schon Zehntausende GIs plus Ausrüstung verlegt werden, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Getarnte Manöverkräfte
Zudem ist Kuwait ein Sonderfall: Da der Großteil der US-Soldaten dort nur an Manövern teilnimmt - die seit Jahren ununterbrochen laufen - rotieren die US-Einheiten alle paar Monate. Über Abmarsch und Rückkehr berichten allenfalls die Lokalzeitungen der jeweiligen Standorte.
Getarnt als Manöverkräfte lassen sich aber auch Kampftruppen in Kuwait einschleusen. Bei der Irak-Krise 1998 etwa verdoppelte das Pentagon stillschweigend die Zahl der Spezialkräfte bei der Übung "Iris Gold". Die Elitesoldaten wurden dann später in die Kämpfe eingebunden.
Gegen Ende 2001 fielen Militärexperten ähnliche Truppenverstärkungen auf. So wurde im November statt des üblichen Bataillons mit rund 800 Mann eine Brigade mit etwa 4000 GIs nach Kuwait geschickt, um am Manöver "Desert Spring" teilzunehmen. Etwas später folgten zwei Bataillone. Dazu verlegte die 3. US-Armee, die einen Bodenkrieg leiten würde, ihr Hauptquartier nach Camp Doha in Kuwait.
Berichten zufolge begann das Pentagon zudem mit dem Aufbau einer Hightech-Kommandozentrale in Katar. Die Luftwaffenbasis dort soll so ausgebaut worden sein, dass schwere B-52-Bomber landen können.
Erfahrene Wüstenkampftruppe
Während Dick Cheney Mitte März die arabische Welt bereiste, bereitete sich in Amerika eine weitere Brigade zum Abflug nach Kuwait vor. Wie die schon im November verlegte Brigade war auch diese zweite Einheit eine erfahrene Wüstenkampftruppe.
Bis Ende März hatten die USA so "fast eine Division nach Kuwait verlegt, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen", sagt Pike - viel zu wenig für einen Krieg, zumindest aber eine Art Grundstock für einen Angriff. "Wir wissen, dass die USA Anfang des Jahres sehr ernsthaft an eine Aktion gegen Irak Mitte 2002 gedacht haben", sagt ein Militärexperte.
Dann schien sich der Wind aber zu drehen: Die Truppenzahl stieg nicht weiter an. Ende März wurde die im November verlegte Brigade zurück in die USA geflogen.
Spekulationen über Aufbaustopp
Über den Grund für den Aufbaustopp lässt sich lediglich spekulieren. Einer könnte sein, dass die Vorräte an Präzisionsmunition im Afghanistan-Krieg stark geschrumpft sind, sagt Heyman. Bis die Lager für einen Irak-Krieg wieder aufgefüllt sind, kann es Monate dauern.
Fest steht nach Meinung von Experten, dass jeder Art von Irak-Aktion ein sichtbarer militärischer Aufbau vorausgehen wird - je größer die Aktion, desto länger. Wie viele Truppen nötig wären, um Irak zu besiegen, ist aber umstritten. Laut Heyman wären 200.000 GIs das Minimum. Baker hält hingegen die Hälfte für ausreichend.
Am tiefsten geht Pike. Wegen der Schnelligkeit, mit der ein Irak-Krieg aus politischen und militärischen Gründen ablaufen müsste, kommt seiner Meinung nach nur ein kleiner Schlag mit drei Divisionen in Frage - etwa 50.000 Soldaten. Eine Division könnte dabei unter der Manövertarnung nach Kuwait geschmuggelt werden. Die restlichen Soldaten würden nachgeflogen, ihr gesamtes Material per Schiff vorausgeschickt. "Von dem Zeitpunkt, an dem der Aufmarsch sichtbar wird, bis zum Beginn des Krieges, würden nur noch zwei Wochen vergehen", sagt Pike.
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