Massenerschießungen von Talibs? Schwere Vorwürfe gegen US-Truppen: angeblich Taliban-Kämpfer gefoltert
Süddeutsche Zeitung
14. Juni 2002
Von Philip GrassmannBerlin Ein irischer Dokumentarfilmer hat schwere Vorwürfe gegen die US-Truppen in Afghanistan erhoben. In einem Film, den der Journalist Jamie Doran in den vergangenen Monaten in der Region von Mazar-i-Sharif gedreht hat, treten mehrere afghanische Soldaten und Zivilisten auf, die den US-Truppen vorwerfen, Gefangene misshandelt und gefoltert zu haben. Ein Zeuge berichtet von Massenerschießungen in der Wüste, an denen auch 30 bis 40 US- Soldaten beteiligt gewesen sein sollen.
Die PDS-Bundestagsfraktion, die erstmals Ausschnitte des Films präsentiert hatte, verlangte eine unabhängige internationale Untersuchung. Die Fraktion der Vereinigten Linken im EU-Parlament, wo der Film ebenfalls gezeigt worden war, forderte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz auf, die Anschuldigungen zu überprüfen. Die Organisation sei in Afghanistan und könne mögliche Beweise schnell sichern, sagte Fraktionschef Francis Wurtz.
In dem Film geht es um das Schicksal von mehreren tausend Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern, die im November vergangenen Jahres nach der Kapitulation der Stadt Kundus in das Gefängnis der Stadt Schebergan gebracht werden sollten. Nach Aussagen mehrerer Zeugen sind etwa je 300 Gefangene in einen Container getrieben worden. Nur die Hälfte sei nach der mehrstündigen Fahrt lebend in Schebergan angekommen. Ein Soldat berichtet, dass er auf Befehl seines Vorgesetzten mit seinem Gewehr Löcher in einen Container geschossen habe, als die Menschen innen verzweifelt nach Luft riefen. Dabei seien viele Menschen verletzt oder getötet wurden. Ein anderer Zeuge gibt an, er habe an einer Tankstelle einen der Container gesehen. Aus ihm sei Blut getropft. Der Film zeigt auch einen Container mit Einschusslöchern.
Ein afghanischer Fahrer berichtet von der Reaktion bei der Ankunft in Schebergan: Die US-Soldaten seien entsetzt gewesen, als sie die Container mit den Toten und Verletzten gesehen hätten. Ihnen sei befohlen worden, die Toten und Verletzten aus der Stadt zu bringen, damit sie nicht von Journalisten gefilmt werden könnten. Der Mann erzählt in dem Film weiter, die Leichen seien bei Dascht-i Zeili, einem Ort etwa dreißig Minuten von Schebergan entfernt, "den Hunden in der Wüste überlassen worden". Verletzte habe man exekutiert. Bei dieser Aktion sollen 30 bis 40 US-Soldaten anwesend gewesen sein. Der Film zeigt dazu einen Ort in der Wüste, der mit Kleidungsstücken und Leichenteilen übersät ist. Sie sind nur spärlich mit Sand bedeckt. Insgesamt sollen mehr als 3000 Gefangene verschwunden sein.
Andere Afghanen, die in dem Film als Soldaten bezeichnet werden, berichten, sie seien Augenzeugen gewesen, wie amerikanische Soldaten Gefangene gefoltert hätten. Einige seien nach einem Verhör nicht mehr zurückgekehrt. Anderen sei das Genick gebrochen worden. Auch sollen US-Soldaten einigen Taliban-Kämpfern ätzende Säure über das Gesicht geschüttet, sie mit Stöcken geschlagen oder sogar Gliedmaßen abgeschnitten haben.
Doran sagte, alle seine Zeugen seien bereit, vor einem internationalen Gericht ihre Aussagen zu wiederholen. In den vergangenen Jahren hatte es in der Region Masar-i-Scharif wiederholt Berichte über Massenmorde gegeben. Die Kontrolle über das Gebiet wechselte oftmals zwischen den Taliban-Truppen und ihren Gegnern. Dabei wurden immer wieder Massaker an den Verlierern verübt.