Führungsrolle der Türkei in Afghanistan Dringen auf politische und finanzielle Gegenleistungen
Neue Zürcher Zeitung
20. Juni 2002it. Istanbul, 19. Juni
An diesem Donnerstag übernimmt der türkische General Hilmi Akin Zorlu für sechs Monate das Kommando über die internationale Schutztruppe in Afghanistan (Isaf). Seine Aufgabe wird es sein, das Überleben der Regierung Karzai, welche der kriegserschütterten Nation soziale Reformen verspricht, zu gewährleisten. Die Isaf ist 4650 Mann stark; dazu gehört ein türkisches Kontingent, das bis Ende Juni auf 1400 Mann anwachsen soll. Alles werde gut gehen, sagte General Zorlu bei seiner Ankunft in Kabul betont optimistisch. In einem Interview wies er auf die positive Haltung der afghanischen Bevölkerung gegenüber der internationalen Truppe hin; der einfache Mann auf die Strasse wisse, warum die Isaf in Kabul sei, und vertraue ihr. Zudem sei das Terrain Afghanistans ähnlich wie das im Südosten der Türkei beschaffen.
Ausbau der türkischen Einflusszone
Ankara hatte sich bereits unmittelbar nach Beginn der Afghanistan-Operation um eine Führungsaufgabe in der Isaf bemüht. Für die türkischen Streitkräfte bedeutet die Übernahme des Kommandos neues Prestige. Türkische Soldaten hatten sich zwar in den vergangenen Jahren auch an Friedensoperationen in Somalia und auf dem Balkan beteiligt. Nie zuvor hatte aber ein türkischer General eine derartige Führungsaufgabe inne. In internationalen Foren begründete Ankara seinen Anspruch damit, dass die türkischen Spezialeinheiten nach 15 Jahren Krieg gegen die kurdische PKK-Guerilla in der Terrorbekämpfung in gebirgigem Terrain erprobt sei.Im Inland hat die Regierung jedoch die historischen Beziehungen zu Kabul in den Vordergrund gestellt, um die Beteiligung türkischer Soldaten an einer militärischen Operation im fernen Afghanistan zu erklären. Afghanistan hatte als erstes Land die Republik von Kemal Atatürk anerkannt. Atatürk, im Jahr 1921 noch im Krieg gegen die britischen, französischen und griechischen Invasions- Truppen verwickelt, reiste nach Moskau, um die junge Sowjetunion um Unterstützung zu bitten. Dort traf er den afghanischen König Amanullah Khan, der gerade die Unabhängigkeit seines Landes ausgerufen hatte. Mit dem türkisch-afghanischen Abkommen vom März 1921 anerkannten beide Führer gegenseitig die Souveränität ihrer damals international noch verpönten Republiken.
Von ihrem aktiven Einsatz in Afghanistan verspricht sich die Türkei freilich auch politische Gegenleistungen. So hoffen die Generäle, ihre Führungsrolle in der Isaf werde Ankara erneut zum strategischen Partner des Westens machen, dem man in schwierigen aussenpolitischen Fragen wie etwa den Beitrittsverhandlungen mit der EU oder im Zypern-Konflikt entgegenkomme. Die Politiker in Ankara träumen davon, den Einfluss der Türkei in Zentralasien als Modell einer muslimischen, aber zugleich westlich orientierten, säkularen und demokratischen Republik ausbauen zu können. Ziel der türkischen Aussenpolitik sei es, an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien eine entscheidende Rolle zu spielen, erklärte unlängst Aussenminister Ismail Cem. Derartige Aspirationen stossen bei den Nato-Alliierten auf grosses Echo. Insbesondere die USA hofften, der Einsatz der türkischen, muslimischen Soldaten könnte jene Kritik, wonach die Afghanistan-Operation sich hauptsächlich gegen den Islam richte, entschärfen.
Wehende Flagge - leere Kasse
Es tue gut, die türkische Flagge im Herzen Zentralasiens wehen zu sehen, frohlockte noch vor kurzem die nationalistische Tageszeitung «Türkiye». Aber nicht alle in der Türkei begrüssen die ehrgeizigen Pläne Ankaras. Um die ambitiöse Rolle einer Weltmacht spielen zu können, müsste die Türkei wohl über entsprechende Finanzmittel verfügen, höhnte etwa die englischsprachige «Turkish Daily News». Die Türkei steckt weiterhin in einer tiefen Wirtschaftskrise, der schlimmsten ihrer Geschichte. Die Generäle wollten deshalb die Führungsrolle in der Isaf erst übernehmen, nachdem Washington Ankara eine finanzielle Hilfe in Höhe von 228 Million Dollar zugesichert hatte. Mit dem Geld sollen die Ausgaben der türkischen Armee in Afghanistan gedeckt werden können.