Legt die Partei des "Kriegsherren" ihre liberale Maske ab? Der indische Ministerpräsident Vajpayee ist politisch und gesundheitlich schwer angeschlagen; die "Falken" der BJP kehren zu ihrem Kernprogramm zurück
Frankfurter Allgemeine Zeitung
22. Juni 2002
Von Erhard HauboldNEU-DELHI, 21. Juni. Lange Zeit galt Atal Behari Vajpayee als die liberale Maske, die auch solche Wähler zur Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Party) zog, die mit deren chauvinistischem Ziel, eine Kulturnation der Hindus ("Hindutva") zu schaffen, nichts im Sinne haben. Spätestens seit März aber zeigt der indische Ministerpräsident sein wahres Gesicht - so sehr, daß Anhänger von einst ihn heute "unappetitlich" finden. Dazu kommen immer mehr Fragen nach dem Gesundheitszustand des 77 Jahre alten "Kriegsherren", der seit einem halben Jahr eine Dreiviertelmillion Soldaten an der Grenze mit Pakistan stehen hat und das entscheidende Wort vor dem Einsatz nuklearer Waffen spricht.
Seit über drei Monaten werden im westlichen Unionsstaat Gujarat Muslime verfolgt; wahrscheinlich wurden bisher 2000 Personen getötet. Das alles sei als Reaktion der Hindu-Mehrheit auf eine Attacke im Bahnhof von Godhra, bei der Muslime Ende Februar fast sechzig Hindu-Pilger in einem Eisenbahnwaggon verbrennen ließen, verständlich. So äußerte sich sinngemäß der Regierungschef von Gujarat, Chefminister Narendra Modi, der die heimische Polizei am Einsatz hinderte und die Streitkräfte nicht anfordern wollte. "Gujarat" gilt längst als der schlimmste, weil vom Staat befohlene Pogrom in der Geschichte des unabhängigen Indiens. Aber Modi ist immer noch im Amt, obwohl es in Indien zur Tradition gehört, daß in solchen Fällen ein unfähiger Chefminister entlassen und sein Staat per Anweisung des Präsidenten der Zentralregierung unterstellt wird.
Vajpayee blieb untätig. Wie er gehört Modi zur BJP, gilt sogar als eine ihrer Wahllokomotiven. Und viele Beobachter glauben, daß die Hindu-Nationalisten in Gujarat ihr Versuchslabor sehen, daß sie eine ähnliche Verunsicherung und Marginalisierung der Muslime in anderen Staaten vorhaben, etwa in Rajasthan und in Kerala. Vajpayee hatte sich zunächst entsetzt gegeben und gesagt, ihm werde schlecht bei dem Gedanken an die Toten von Gujarat. Dann aber wechselte er den Ton und sprach von der Neigung der Muslime zum Dschihad. Und auch davon, daß die Muslime froh sein könnten, wenn ihnen die Hindus Gastfreundschaft gewährten.
Manche Leute erinnern sich daran, daß Vajpayee schon vor über dreißig Jahren bei einer Parlamentsdebatte die Muslime vor einer wachsenden Aggressivität ungeduldiger werdender Hindus gewarnt hatte. Die RSS habe er in seinen Genen - jene Mutter aller Hindu-Fundamentalisten namens Rashtriya Swayamsevak Sangh, der Vajpayee wie alle führenden BJP-Politiker seit frühester Jugend angehört. Eine Zeitlang habe er den Gemäßigten spielen dürfen, den man eigentlich in einer anderen Partei vermutet hätte. Ohne ihn hätte die BJP bei den letzten Wahlen 1999 nicht so gut abgeschnitten. Aber dann verlor sie eine Landtagswahl nach der anderen, inzwischen regiert die oppositionelle Kongreßpartei in 16 Unionsstaaten. Die Mittelklasse-Wähler sind enttäuscht von der BJP, die weder die Wirtschaft vorangebracht noch die Effizienz der Bürokratie verbessert hat. Eine Wahlniederlage auf nationaler Ebene in zwei, drei Jahren vor Augen, scheinen die "Falken" in der BJP um Innenminister Advani beschlossen zu haben, zu ihrem Kernprogramm zurückzukehren, der "Hindu Rashtra", der Herrschaft der Hindus, der sich die Minderheiten unterzuordnen haben. Die jüngere Generation der BJP-Mitglieder scheint hinter Advani zu stehen und eine Entlassung Modis in Gujarat verhindert zu haben. Und Vajpayee scheint zu alt und schwächlich gewesen zu sein, sich dagegen zu wehren. Wahrscheinlich wird seine Partei die "liberale Maske" im nächsten Wahlkampf noch einmal einsetzen, sie dann aber in den Ruhestand schicken. Advani, ein kalter, von der Reinheit und Kraft der Hindu-Kultur überzeugter Machtpolitiker, bereitet sich auf die Nachfolge vor.
Einen Bericht in der amerikanischen Zeitschrift "Time", wonach ein nach zwei Knieoperationen behinderter Vajpayee zuviel ißt und trinkt und drei Stunden am Nachmittag schläft, haben Regierungssprecher als falsch und "in schlechtem Geschmack" geschrieben verurteilt. Alle Organe des Regierungschefs funktionierten normal, er trinke keinen Alkohol. Wahrscheinlich leidet der Junggeselle Vajpayee unter den Folgen des Alters und eines früher manchmal ausschweifenden Lebenswandels. Mitarbeiter aber erzählen, daß er durchaus alert sein kann, ein Meister im Wechseln der Hüte. Bei den radikalen Hindus schimpft er über die Muslime, bei der Minderheit lobt er den säkularen Charakter des indischen Staates. Den Soldaten an der Grenze sagt er, daß sie sich auf eine entscheidende Schlacht gefaßt machen sollten. Vor friedliebenden Journalisten beteuert er hinterher, daß er am Himmel keine Kriegswolke erkennen könne.
Vajpayee hat für die Aussöhnung mit Pakistan mehr getan als jeder andere indische Politiker, was ihm seinen Platz in den Geschichtsbüchern sichern sollte. Statt dessen werden sie an ihn eher erinnern als an jenen Regierungschef, der 1999 die Atomversuche wieder aufleben ließ, nach einem Moratorium von 14 Jahren. Er fühlt sich übertölpelt von seinem pakistanischen Gegenspieler Musharraf, den er den Überfall auf Kargil im indischen Kaschmir 1999 und den gescheiterten "Gipfel" in Agra im letzten Jahr anlastet. Den Dialog mit Pakistan lehnt er heute hartnäckig ab. Erst müsse Pakistan glaubhaft mit der Einschleusung von Extremisten nach Kaschmir aufhören, fordert Vajpayee, der trotz seines Machtverlustes Indiens angesehenster Politiker bleibt.