Der Mythos von Camp David Hätte der Nahostkonflikt bewältigt werden können?
Neue Zürcher Zeitung
22. Juni 2002
Von Ludwig Watzal*Vor fast zwei Jahren scheiterten in Camp David in den USA die entscheidenden Verhandlungen zwischen den Israeli und den Palästinensern. Wenig später folgte die beispiellose Welle von Gewalt im Nahen Osten, die bis heute anhält. Der Autor des folgenden Beitrags findet die Gründe für das Scheitern von Camp David im Wesentlichen in der Verhandlungstaktik des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak.
Israel, die Palästinenser, die USA und die Europäische Union stehen vor den Trümmern des von ihnen favorisierten und geförderten Friedensprozesses im Nahen Osten. Wäre dieser Prozess von Beginn an realistischer eingeschätzt worden, hätte das Endergebnis niemanden verwundert. Die Enttäuschung hätte sich in Grenzen gehalten. Es sollen hier nicht alle Einzelheiten des Friedensprozesses beschrieben und die Gründe seines Scheiterns aufgezeigt werden, es soll nur auf das angeblich grosszügige Angebot des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak eingegangen werden, das der PLO-Chef und Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde, Yasir Arafat, auf dem Gipfeltreffen in Camp David im Juli 2000 partout nicht annehmen wollte. Dieses «grosszügige Angebot» Baraks hat es nie gegeben; es ist eine Legende, die zu einem Mythos geworden ist. Das sogenannte grosszügige Angebot wurde seither immer wieder vorgetragen; es wurde und wird weiterhin medial perfekt inszeniert, aber niemand spricht über seine Details. Sie sind nämlich ernüchternd.
Völlig unterschiedliche Erwartungen
Nach dem Ende des Gipfeltreffens in Camp David wurde Arafat von dem damaligen amerikanischen Präsidenten Clinton und von Barak die Alleinschuld am Scheitern der Verhandlungen gegeben, obwohl beide Politiker dafür eine Mitverantwortung trugen. Nachdem die Legende vom «grosszügigen Angebot» inzwischen auch durch Mitarbeiter Baraks entzaubert worden ist, versucht der ehemalige Ministerpräsident Israels heute, seine Position zu rechtfertigen; zuletzt in einem Interview mit dem Historiker Benny Morris in der «New York Review of Books» vom 13. Juni. Barak bezieht dabei aber die weitergehenden Verhandlungsergebnisse der folgenden Konferenz von Taba in Ägypten im Januar und Februar 2001 mit ein. Zu diesem Zeitpunkt war Baraks bevorstehende Niederlage gegen Ariel Sharon jedoch schon absehbar. Mit Baraks ursprünglicher Position in Camp David haben diese nachgeschobenen Rechtfertigungen nichts gemeinsam.
Schon das Zustandekommen des Gipfeltreffens von Camp David hatte unter keinem guten Vorzeichen gestanden. Die Erwartungen hätten nicht unterschiedlicher sein können: Arafat hielt die Zeit für Verhandlungen noch nicht für gekommen. Seine Berater signalisierten den Amerikanern, dass der PLO-Chef kein Endabkommen unterzeichnen werde, das nicht ein Minimum an palästinensischen Rechten umfasse. Nur auf intensiven Druck der amerikanischen Aussenministerin Albright, des Sicherheitsberaters von Clinton, Berger, und des amerikanischen Nahost- Vermittlers Ross liess sich Arafat zur Teilnahme an dem Treffen überreden. Barak signalisierte seinerseits Albright, dass er ein «grosszügiges Angebot» unterbreiten werde. Er hatte kurz zuvor die Verhandlungen in Stockholm für beendet erklärt, weil er sein Angebot nur an einem Gipfeltreffen in den USA unterbreiten wollte. Barak erhoffte sich in Camp David einen 100-prozentigen israelischen Frieden. Die israelischen Vorstellungen, die im Laufe des mehrtägigen Treffens von den USA präsentiert wurden, zeigten, dass sie die Erwartungen und Hoffnungen der Palästinenser völlig ignorierten und nur die Sicherheitsinteressen Israels berücksichtigten. Darüber hinaus war Baraks innenpolitische Position schwach. Er hatte keine parlamentarische Mehrheit mehr.
Die Sprache des Siegers
Das diplomatische Klima war frostig. Von einem Friedensprozess konnte im Juli 2000 nicht mehr gesprochen werden. Die Besiedelung und die Zerstückelung palästinensischen Landes durch den Bau von Umgehungsstrassen gingen auch unter der Regierung Barak weiter. Barak hatte die von ihm selbst ausgehandelte dritte Phase des Truppenrückzuges im Abkommen von Sharm al- Sheikh vom September 1999 ausgesetzt und wollte direkt zu den Endstatusverhandlungen übergehen. Dies bedeutete, dass die Palästinenser gezwungen wurden, von 42 Prozent des Gebietes des Westjordanlands aus die Endverhandlungen zu führen. Davon waren 18 Prozent unter ihrer alleinigen Kontrolle, in über 24 Prozent des Landes teilten sie sich die Kontrolle mit Israel. Über die restlichen 58 Prozent des Gebietes hatten sie kein Mitspracherecht. Die Autonomiegebiete wurden auch während der Zeit des «Friedensprozesses» immer wieder abgeriegelt. Barak gehörte nicht zu den Befürwortern des Osloer Friedensprozesses. Das wird daraus ersichtlich, dass er noch als Innenminister in der Regierung Yitzhak Rabins in dem Moment gegen die Abkommen gestimmt hatte, als die Friedenseuphorie auf ihrem Höhepunkt gewesen war. Baraks politische Heimat ist der rechte Flügel der zionistischen Arbeiterbewegung Achdut Ha'avoda, die seit 1948 für ein Gross-Israel eintritt.
Vom Start weg war das Verhandlungsklima in Camp David frostig. Auch die Formulierung vom «grosszügigen Angebot» entsprach eher der Sprache des Siegers, der erwartete, dass der Besiegte den Vorschlag des Stärkeren akzeptierte. Barak beharrte in Camp David darauf, man könne seine Vorschläge nur «ganz oder gar nicht» annehmen. Die israelischen Vorschläge nahmen keinen Bezug auf die verschiedenen Uno-Resolutionen. Dabei sollte der Friedensprozess ursprünglich die Resolution 242 realisieren, nach der Formel «Land für Frieden». Wenn man von «Grosszügigkeit» überhaupt sprechen will, dann muss man Baraks Position im Gegensatz zur vorherrschenden Haltung der politischen Klasse in Israel sehen. Im Gegensatz zu dieser Haltung mussten Baraks Vorschläge in der Tat als weitreichend erscheinen. Barak erwartete, dass sich Arafat dem gemeinsamen Druck der USA und Israels beugen werde, wie er das in den Teilabkommen zuvor immer wieder getan hatte. In Camp David waren die Israeli von ihrer Überlegenheit so überzeugt, dass sie die Haltung Arafats nicht verstehen wollten. Seine Ablehnung überraschte sie zweifellos.
Die Ziele der Verhandlungspartner
Was war die Ausgangslage der Verhandlungspartner? Die PLO wollte Folgendes erreichen:
1.Ein Rückkehrrecht oder eine «angemessene Entschädigung» für die Flüchtlinge gemäss der Uno-Resolution 194; 2.einen vollständigen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten im Westjordanland und im Gazastreifen in Übereinstimmung mit den Uno-Resolutionen 242 und 338; 3.die Räumung aller israelischen Siedlungen; 4.die Anerkennung Ostjerusalems als der Haupt stadt eines zukünftigen Staates Palästina.
Israels Position wurde durch die fünf «roten Linien» markiert, die Barak nicht zu überschreiten bereit war. Sie lauteten:
1.Kein Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967; 2.Jerusalem bleibt ungeteilt und unter israeli scher Souveränität; 3.westlich des Flusses Jordan darf sich keine andere Macht etablieren; 4.die meisten Siedler bleiben unter israelischer Souveränität, auch nach einem Endabkommen; 5.Israel wird keine moralische oder rechtliche Verantwortung für das Problem der palästinen sischen Flüchtlinge übernehmen.
Was umfasste Baraks «grosszügiges Angebot» konkret? Der palästinensische Staat sollte im Westjordanland aus drei Landstücken bestehen, die durch Korridore miteinander verbunden gewesen wären; die Kontrolle dieser Korridore und die Aussengrenzkontrollen der drei Landstücke hätten bei Israel gelegen. Die Bevölkerung wäre im Alltag weiter der Willkür der Besatzungsmacht ausgesetzt gewesen. 10 Prozent des Westjordanlands wären von Israel für die Siedlungen annektiert worden. Dafür sollten die Palästinenser mit einem Stück Wüste entschädigt werden. Weitere 10 bis 12 Prozent, die den Jordangraben ausmachen, wollte Israel für 100 Jahre pachten.
Heikler Status Jerusalems
Es gab keinerlei Zugeständnisse Israels in der Flüchtlingsfrage. Der palästinensische Anspruch wurde von israelischer Seite so dargestellt, als sässen die 3,7 Millionen palästinensischen Flüchtlinge bereits auf gepackten Koffern. Jossi Beilin, der damalige israelische Justizminister, schreibt in seinem Buch «Das Tagebuch einer verwundeten Taube», Arafat habe Clinton in Camp David deutlich gemacht, dass die Palästinenser bei einer Lösung der Flüchtlingsfrage die bevölkerungspolitischen Bedenken Israels berücksichtigen würden. Dieser Punkt gehörte also nicht zu den unabdingbaren Forderungen der Palästinenser. Die Palästinenser waren zu einem Kompromiss bereit und bestanden nur auf einer prinzipiellen Anerkennung ihres Rechtes auf Rückkehr.
Besonders heikel war der Status von Jerusalem. Insbesondere Israels Haltung in Bezug auf den Tempelberg erregte das Misstrauen der Palästinenser. Die plötzliche israelische Forderung, die Juden sollten auf dem Tempelberg beten können, führte zur strikten Zurückweisung durch die Palästinenser. Amerikanische Rechtsexperten schlugen folgende Lösung vor: Ein internationales Komitee, bestehend aus dem Uno-Sicherheitsrat und Marokko, sollte den Palästinensern die Aufsicht über den Tempelberg geben, während die Souveränität über den Ort bei Israel liegen sollte. Jerusalem sollte fragmentiert werden. Für verschiedene Stadtteile sollten verschiedene Systeme gelten. Alles in allem sollte sich die palästinensische Souveränität auf die Teile Ostjerusalems beschränken, die nicht Teil Jerusalems in den Stadtgrenzen von 1967 gewesen waren. Die sogenannte Hauptstadt Ostjerusalem der Palästinenser hätte aus drei Dörfern bestanden: Abu Dis, Al-Aisaria und Sauwahra. Ein besonderes Verfahren sollte später für die Altstadt angewandt werden, dort sollte auch Arafats souveränes, umzäuntes Gelände für seine Verwaltung liegen. Diese Lösung wollten Israel und die USA den Palästinensern aufdrängen, versehen mit den Unterschriften, die das Ende des Konfliktes besiegeln sollten.
In 15 Tagen nur ein einstündiges Gespräch
Wie wenig vertrauensvoll die beiden Kontrahenten in Camp David miteinander umgingen, zeigt Folgendes: Barak und Arafat sahen sich während 15 Tagen in Camp David nur eine Stunde, und dabei wurde über das Wetter und das Essen geredet. Beilin kritisiert seinen ehemaligen Chef dahingehend, dass es Barak nicht gelungen sei, einen persönlichen Draht zu Arafat zu entwickeln, obwohl dieser auf ihn zugegangen sei. Beilin berichtet, dass das israelische Verhandlungsteam auf Anweisung Baraks den Palästinensern niemals etwas Schriftliches unterbreitet habe. Für die Palästinenser habe es immer nur die Wahl zwischen der Annahme der Vorschläge oder deren Ablehnung gegeben. Auch seien die amerikanischen Vorschläge jedes Mal mit der israelischen Delegation besprochen worden, bevor sie den Palästinensern unterbreitet wurden.
Barak mag ein hervorragender Soldat gewesen sein, als Politiker scheiterte er. Dafür ist er alleine verantwortlich. Seine mit Brachialgewalt versuchte Durchsetzung eines Abkommens mit den Palästinensern in Camp David sowie die Instrumentalisierung der Ängste der israelischen Bevölkerung ebneten Ariel Sharon den Weg. Letztlich kann es nur eine Verhandlungslösung für den Nahostkonflikt geben. Eine wesentlich bessere Grundlage als die Ergebnisse von Camp David sind die Resultate, die in Taba im Januar und Februar 2001 erzielt wurden. Daran gilt es anzuknüpfen.
* Der Autor ist Redaktor bei der deutschen Zeitschrift «Aus Politik und Zeitgeschichte» und Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Zuletzt von ihm erschienen: Feinde des Friedens. Der endlose Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Aufbau-Verlag, Berlin 2002.