Abschreckung im Anti-Terror-Krieg? Ein Untersuchungsbericht amerikanischer Wissenschafter
Neue Zürcher Zeitung
5. September 2002Wäre es am 11. September zu den Anschlägen gekommen, wenn das Taliban-Regime gewusst hätte, dass es mit seiner Unterstützung der Kaida die eigene militärische Niederlage und die Verdrängung von der Macht in Afghanistan heraufbeschwört? Hätte die Terrororganisation selbst anders gehandelt, wenn sie die entschlossene militärische Reaktion der USA und die der Kaida dabei zugefügten Verluste vorher hätte mit Gewissheit erkennen können? Eine Kommission der National Academy of Sciences mit vornehmlich Verhaltenspsychologen und Soziologen kommt in einem Bericht unter dem Titel "Den Terrorismus entmutigen" zu der Empfehlung an die Regierung, dass eine glaubwürdig vertretene Strategie der Abschreckung der beste Schutz vor neuen Anschlägen ist.
Das Rezept des Kalten Kriegs
Die beteiligten Akademiker halten es dabei für unumgänglich, sich mit der Denkweise der Terroristen und ihren "Werten" auseinanderzusetzen, um der Drohung amerikanischer Gegenmassnahmen Glaubwürdigkeit und Effizienz zu verleihen. Ein neuer und bisher fast als ketzerisch erachteter Gesichtspunkt ist jener des direkten oder indirekten Informationsaustauschs mit dem Gegner. Die Kommunikation mit Terroristen, so heisst es in dem Report, sei ausserordentlich schwierig, alle möglichen Kanäle sollten dafür offen gehalten werden. Die Strategie der Abschreckung, die sich im Kalten Krieg bewährt habe, gelte auch für die Auseinandersetzung mit den Terroristen, wenn auch angesichts eines geographisch oder nationalstaatlich kaum definierten Gegners unter erschwerten Bedingungen.Doch auch Terroristen haben nach Einschätzung der Wissenschafter "Werte", die sie zu schützen bestrebt sind, was sie für eine Drohung mit Vergeltung empfänglich macht. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht gehören dazu das eigene Leben und das der Familie; in der Realität wartet kaum ein Terrorist auf die Gelegenheit zum medienwirksamen Suizid. (Gerade die Attentäter des 11. September waren allerdings bereit, Selbstmord zu begehen. Red.). Neben der Verbundenheit zu Religion und kulturellem Erbe haben die Psychologen vor allem eine "öffentliche Meinung" im direkten Umfeld der Terrorzellen, also im Gastland oder bei Gruppen, die für die Botschaft der Kaida anfällig sein könnten, als Objekt ausgemacht, auf welches die Terroristen Rücksicht nehmen und das folglich ein Ansatzpunkt für subtile Gegenmassnahmen sein kann. Die Betonung liegt auf subtil - die Wissenschafter warnen nachdrücklich vor einer Überreaktion bei Gegenschlägen: Diese könnten zu einer Solidarisierung bestimmter, bisher nicht involvierter Gruppen mit den Terroristen führen.
Ehemalige "Schurken" als Vermittler?
Das tiefe Misstrauen der Terroristen gegenüber den USA schliesst nach Meinung der Kommission eine direkte Kommunikation aus. Umso wichtiger sei die Übermittlung von Botschaften durch Dritte. Der Ausschuss kommt ausdrücklich zu der Empfehlung, zwischenstaatliche Beziehungen zu Ländern, die Terroristen Zuflucht gewähren, aufrechtzuerhalten. Es sei verlockend, diesen Staaten gegenüber ausschliesslich drohend aufzutreten. Zwar sollte auch ihnen gegenüber eine Politik der Abschreckung, der Androhung von Vergeltung betrieben werden, doch könne man über ihre Regime die eigene Strategie und damit die Gefahr für die "Werte" der Terroristen deutlicher und glaubwürdiger vermitteln. Auf verhaltene Zustimmung dürfte bei einigen Politikern in Washington die Empfehlung stossen, Staaten als Vermittler zu gewinnen, die in der Vergangenheit als antiwestlich aufgetreten sind, jedoch inzwischen Zeichen der Mässigung erkennen lassen - ausdrücklich genannt wird Libyen.Eher ungewöhnlich in der öffentlichen Diskussion der USA ist auch die Analyse von Faktoren, die junge Menschen anfällig für den Terrorismus machen. Eine wichtige Ursache wird in der demographischen Dynamik des Nahen und Mittleren Ostens gesehen. Viele islamische Staaten gehören zu den Ländern mit den höchsten Nettoreproduktionsraten weltweit, was zu einem extrem hohen Anteil junger Menschen in Gesellschaften führt, die weder ein adäquates Schulsystem noch Arbeitsplätze für alle zur Verfügung zu stellen in der Lage sind. Persönliche Aussichtslosigkeit und gesellschaftliche Marginalisierung machen für Botschaften radikaler Elemente anfällig. Diese im Prinzip zweifellos richtige Analyse der Wissenschafter trifft allerdings auch in dieser Beziehung nicht auf das spezifische Täterprofil des 11. September zu: 16 der 19 Massenmörder stammten aus Saudiarabien, keineswegs ein Land mit einer erdrückenden Bevölkerungsdichte und Massenarmut, auch kamen einige aus einer durchaus gebildeten Mittelschicht.
Absage an Hauruck-Methoden
Die langfristige Empfehlung der Wissenschafter für die Unterbindung des Terrorismus ist, so heisst es, für den Westen nicht bequem. Kurzfristige Massnahmen helfen wenig, es sind die sozioökonomischen Begleitumstände einer ganzen Region, die mit Geduld zum Besseren gewendet werden müssen, um den Nährboden des Terrorismus trockenzulegen. Und dem eigenen Land schreiben die Experten ins Stammbuch: Das von der amerikanischen Kultur so geschätzte Hauruck-Verfahren - "find a problem and fix it" - muss einer auf grosse Zeiträume angelegten, viele Faktoren (nicht nur die militärischen) berücksichtigenden Strategie weichen, soll die Bedrohung durch den Terrorismus einmal der Vergangenheit angehören.Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG