Getötet im Namen des "Anti-Terror-Kampfes" Täglich neue zivile Opfer in Afghanistan und Tschetschenien
Frankfurter Rundschau
8. Oktober 2002
Von Florian Hassel (Moskau)Ein Wirtschaftsprofessor aus New Hampshire und Menschenrechtler aus Moskau sind Kriegsverbrechen auf der Spur: Sie suchen an zwei verschiedenen Schauplätzen - Afghanistan und Tschetschenien - und haben es mit zwei verschiedenen Supermächten - den USA und Russland - zu tun. Die Probleme aber sind ähnlich.
Seit einem Jahr hat Marc Herold zwei Jobs. Tagsüber unterrichtet der 59 Jahre alte Wirtschaftsprofessor an einer Universität im US-Bundesstaat New Hampshire seine Studenten. Nach Dienstschluss und am Wochenende wertet Herold weltweite Quellen aus und aktualisiert den "Afghan Daily Count", eine Internet-Datenbank über Zivilisten, die in Afghanistan seit Oktober 2001 durch US-Bomben gestorben sind. Inzwischen zählt Herold "zwischen 3100 und 3600 getötete Zivilisten".
Der irische Fernsehjournalist Jamie Doran zeigte Europa-Parlamentariern im Juni Belege für einen Massenmord an Taliban-Gefangenen, der Ende November oder Anfang Dezember 2001 stattgefunden haben soll. Hunderte, womöglich mehrere Tausend Taliban sollen von Soldaten der Nordallianz ermordet worden sein. Indizien sprechen dafür, dass US-Spezialeinheiten davon zumindest wussten.
Doch während der Film Schlagzeilen machte, bleibt das Schicksal der getöteten Zivilisten ohne größere Beachtung. "Dabei sind auch dies Kriegsverbrechen", sagt Marc Herold: "Die Entscheidung von US-Kommandeuren, schwere Bomben mitten in Städten oder Dörfern abzuwerfen, verstieß gegen alle humanitären Regeln. Ich schätze, dass zwei Drittel der getöteten Zivilisten Frauen und Kinder waren."
Afghanistan ist nicht das einzige Gebiet, wo im Namen eines Kampfes gegen echten oder angeblichen Terror tausende Zivilisten sterben. In Moskau führt die Menschenrechtsorganisation Memorial Buch über die Opfer in Tschetschenien. Alexander Tscherkassow, ein 36 Jahre alter ausgebildeter Physiker, ist seit dem Herbst 1999 "fast zwei Dutzend Mal" in Tschetschenien gewesen. "Auf Grund der von uns und anderen dokumentierten Todesfälle und Hochrechnungen schätzen wir, dass im zweiten Tschetschenienkrieg bis zu 20000 Zivilisten getötet wurden."
In New Hampshire ist US-Forscher Herold dafür, "dass in unserer Gesellschaft eine breite Debatte über die Kriegsverbrechen in Afghanistan beginnt und die Verantwortlichen vor Gericht kommen". In Moskau versuchen Tscherkassow und seine Mitstreiter das Gleiche für Tschetschenien. Doch weder in den USA noch in Russland sieht es so aus, als ob diese Forderung erfüllt würde.
In Washington bezweifelten Militärsprecher im Fall der Massenmorde an den Taliban-Gefangenen zunächst, dass es überhaupt Verbrechen gegeben habe. Als das Magazin Newsweek Ende August die Verbrechen nach einer aufwendigen Recherche bestätigte und die Frage nach der Mitwisserschaft einer genau bezeichneten US-Spezialeinheit stellte, erhielt es keine Antwort. Immerhin kündigte Lakhdar Brahimi, der UN-Bevollmächtigte für Afghanistan, eine formelle Ermittlung an.
Optimismus ist bei dieser Ermittlung allerdings fehl am Platz. Nachdem US-Bomber in der Nacht zum 1. Juli eine Hochzeitsgesellschaft bombardierten und knapp 50 Zivilisten töteten, versuchten angeblich US-Ermittler in dem betroffenen Dorf, Beweise zu manipulieren. Brahimi ließ einen UN-Report erstellen. Doch auf Druck der USA soll der im Giftschrank verschwunden sein, das berichtete zumindest Le Monde diplomatique.
In Russland wären Menschenrechtler schon froh, wenn über eine internationale Untersuchung wenigstens diskutiert würde. Doch alles, was Moskau in den kommenden Wochen droht, ist ein erneuter Besuch einer Delegation des Europarats. Dessen Besuche haben dem Kreml bisher lediglich als Feigenblatt zur Fortführung der Menschenrechtsverletzungen gedient.
"Kein russisches Gericht hat bisher auch nur einen Soldaten oder Offizier wegen Mordes an einem tschetschenischen Zivilisten verurteilt", sagt Memorial-Mann Tscherkassow. Und die Opferliste wächst: Am 6. September etwa seien an der tschetschenisch-inguschetischen Grenze die vergrabenen Leichen von sieben Männern gefunden worden. Tscherkassow berichtet: "Die Männer, von denen der älteste 57 Jahre alt war, wurden im Mai entführt. Ihre Entführer waren nach Zeugenaussagen Soldaten der 21. Sofrinski-Brigade der Truppen des Innenministeriums. Wir haben den russischen Behörden alle Details sofort mitgeteilt. Passiert ist nie etwas."